Verständnis und Realität: kaum etwas klafft so weit auseinander, wie es bei der Digitalen Agenda 2014 – 2017 der Bundesregierung und der erst kürzlich im Global Information Technology Report 2015 erneut und zuvor immer und immer wieder beschriebenen Realität der Fall ist.

“Revolution”, “Chancen”, “auch für die Wirtschaft”

Es ist schon faszinierend, wenn man sich allein den Teaser auf der entsprechenden Website der Bundesregierung einmal in Ruhe zu Gemüte führt:

Die Digitale Agenda ist eines der wichtigsten Vorhaben der Bundesregierung, sagt Bundeskanzlerin Merkel. ‚Die digitale Revolution bietet uns große Chancen‚ – auch für die Wirtschaft. Die Digitale Agenda enthält eine Fülle von Maßnahmen, um die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Revolution? Wirklich? Chancen? Ernsthaft? Auch für die Wirtschaft? Hallo? – Ja, wir alle haben leider sehr deutlich verstehen müssen, dass das Internet für Angela Merkel noch Neuland ist. – Immerhin war sie erschreckend ehrlich, verglichen mit vielen anderen, die nicht einmal den Verständnismangel für dieses Neuland einräumen.

Ein Neuland, das übrigens seit 1969, allerspätestens 1981 grundlegend und mit dem Web seit dem 06. August 1991 für jedermann entdeckt, verfügbar, spürbar und, viel wichtiger: längst alltäglich ist. Ganz real digital. – Computer gibt es seit…, ach, lassen wird das…

Für viele damalige Zeitgenossen war die Industrielle Revolution nach den ersten deutlichen Zeichen und weiteren 25 bis 50 Jahren, also etwa 2 Generationen, ganz sicher auch noch Neuland: Damals war der Erkenntnisgewinn und Erkenntnisaustausch in der Breite und Tiefe schließlich vergleichsweise minimal. Heute allerdings haben wir – das Internet!

Und gerade Deutschland zog bekanntermaßen bei dieser – und allerlei anderen Revolutionen – erst recht spät nach. Daraus hätte man eigentlich lernen können, oder?

Die Wirtschaft ist digital – oder gar nicht.

Wer heute im Hinblick auf die Digitalisierung von Chancen – also einem zukünftigen Potential – spricht, hat offensichtlich überhaupt nicht verstanden, was in den letzten Dekaden passiert ist. Und zwar weder gesellschaftlich – noch gerade auch für die Wirtschaft.

Beide Systeme stehen aufgrund der veränderten Kommunikation und Konversation mitten in einer Konversion, die sie disruptiv oder transformatorisch vollständig erfasst hat.

Wer heute politische Maßnahmen und Rahmenbedingungen setzen möchte, sollte daher zunächst einmal verstehen, dass es bei der vorgestellten Digitalen Agenda viel mehr um eine Aufarbeitung der Vergangenheit als um Zukunftsgestaltung geht.

Global Information Technology Report 2015

Der Global Information Technology Report 2015 des World Economic Forum zeichnet auf 381 Seiten erneut ein Bild von Deutschland im internationalen Vergleich mit 143 Staaten, das in Bezug auf die digitalen Fähigkeiten und Aussichten mehr als unschön ist:

  • Networked Readiness: Platz 13
  • Environment: Platz 19
  • Readiness: Platz 9
  • Usages: Platz 14
  • Impact: Platz 17

Ganz konkret stellt der Global Information Technology Report 2015 lapidar fest:

The country has lost ground in terms of government usage and social impacts (31st), with government online services availability and citizens‘ e-participation both decreasing significantly. The renewed government effort in mainstreaming ICTs outlined in the Digital Agenda 2014-2017 bill passed last year, the first-ever in Germany, could reverse the trend. The strategy exposes a number of measures to increase ICT penetration, growth and security, including investment in digital infrastructure, especially in rural areas.

The first-ever in Germany… Immerhin. Besonders deutlich wird dies im Hinblick auf den Vergleich der gesetzgeberischen Tätigkeit, die regelmäßig von veralteten und gerade nicht digitalen Interessen geleitet wird:

  • Effectiveness of law-making bodies: Platz 13
  • Laws relating to ICTs: Platz 30
  • Intellectual property protection: Platz 21

Wie steht es um das wirtschaftliche und innovative Umfeld?

  • Availability of latest technologies: Platz 17
  • Venture capital availability: Platz 28
  • Time required to start a business: Platz 82
  • Number of procedures required to start a business: Platz 107
  • Total tax rate: Platz 109 (48,8%)
  • Intensity of local competition: Platz 12
  • Government procurement of advanced technology products: Platz 16
  • International Internet bandwidth: Platz 25
  • Secure Internet servers: Platz 16
  • Fixed broadband Internet tariffs: Platz 86

Und die Fähigkeiten und Bildungschancen?

  • Quality of the educational system: Platz 12
  • Secondary enrollment rate: Platz 29
  • Tertiary enrollment rate: Platz 37
  • Quality of the math and science education: Platz 20
  • Quality of management schools: Platz 29

Wie steht es um die individuelle Nutzung und Chancen?

  • Internet users: Platz 17 (84%)
  • Households with a personal computer: Platz 19 (88,9%)
  • Households with Internet access: Platz 12 (87,7%)
  • Fixed broadband Internet subscriptions: Platz 9 (34,6%)
  • Mobile broadband Internet subscriptions: Platz 50 (44,7%)
  • Use of virtual social networks: Platz 59

Wie weit ist die digitale Konversion in der Wirtschaft?

  • Firm-level technology absorption: Platz 13
  • Capacity for innovation: Platz 4
  • PCT patents and applications: Platz 6
  • Business-to-business Internet use: Platz 29
  • Business-to-consumer Internet use: Platz 13
  • Extent of staff training: Platz 13

Und wie weit wurde auf Regierungsseite konvertiert?

  • Importance of ICTs to government vision of the future: Platz 36
  • Government Online Service Index: Platz 34
  • Government success in ICT promotion: Platz 31

Welchen wirtschaftlichen Einfluss hat das alles?

  • Impact of ICTs on new services and products: Platz 19
  • PCT ICT patent applications: Platz 11
  • Impact of ICTs on new organizational modelds: Platz 22
  • Share of workforce employed in knowledge-intensive activities (%): Platz 18 (42,9%)

Und welcher gesellschaftliche Einfluss besteht?

  • Impact of ICTs on access to basic services: Platz 29
  • Internet access in schools: Platz 43
  • ICT use and government efficency: Platz 33
  • E-Participation Index: Platz 24

Hallo? Deutschland? Wann werden wir digital?

Deutschland hängt zurück, in vielen zukunftsorientierten Bereichen sogar gravierend: Gerade das Bildungssystem, und mithin die Bildungschancen und Bildungsmöglichkeiten, zeigt wenig bis keine Bereitschaft, sich an die digitale Realität auch nur anzunähern. So gestaltet man keine Zukunft! – Und was genau sagt dazu die Digitale Agenda?

Unser Bildungssystem muss die Menschen noch besser auf die Anforderungen der digitalen Arbeitswelt und der Wissensgesellschaft vorbereiten und ihre Medienkompetenz stärken.

Das klingt doch gut, aber leider kommt dann konkret das hier:

Die Bundesregierung wird sich daher gemeinsam mit den Ländern und unter Einbindung weiterer Akteure im Bildungsbereich für den stärkeren Einsatz digitaler Medien in der Bildung und im gesamten Lebenslauf einsetzen. Der Bund wird gemeinsam mit den Ländern und weiteren Akteuren aus allen Bildungsbereichen eine Strategie ‚Digitales Lernen‘ entwickeln, die die Chancen der digitalen Medien für gute Bildung entschlossen nutzt, weiter entwickelt und umsetzt. – Um auf die zentralen Herausforderungen der Arbeitswelt in der Digitalisierung vorbereitet zu sein, müssen wir Qualifizierungsbedarf und Qualifizierungsform für die Bereiche Aus-, Fort- und Weiterbildung noch besser analysieren, und – wo notwendig – Maßnahmen zur Umsetzung (weiter)entwickeln.

Gemeinsam mit den Ländern, einsetzen, Strategie … entwickeln, weiter entwickeln, analysieren und (weiter)entwickeln! – Das bedeutet also: keine konkreten Maßnahmen und keine konkreten Rahmenbedingungen.

Vielleicht kommen die dann ja in der Digitalen Agenda 2018+? Oder vielleicht auch nie? Die Digitalisierung ist in Deutschland – über den Umweg, genauer den Kern der Veränderung: der Bildung – faktisch Ländersache!

Wirklich wichtig ist das Thema Digitalisierung, trotz aller Beteuerungen, jedenfalls ganz offensichtlich nicht. – Zur Erinnerung: Die Digitale Agenda ist eines der wichtigsten Vorhaben der Bundesregierung…

Bleibt die Wirtschaft: Wir werden dort auch weiterhin unseren – wenn auch bescheidenen – Beitrag leisten. – Und wir wissen, dass wir nicht allein sind und viele andere auch bereits an der digitalen Gegenwart gearbeitet haben und weiterhin an der digitalen Zukunft arbeiten.

Warum wir das allerdings in einem Umfeld machen müssen, das immer weniger zur Realität passt, ist für uns heute nur noch unverständlich. – Und die wichtigste Frage bleibt auch mit der Digitalen Agenda offen: Hallo? Deutschland? Wann werden wir digital?